Mutmaßungen, Texte, Überlieferungen
(Im wesentlichen eine Dokumentation eines Teils meines Vortrags &c. am Dienstag dem 19. April 2016 im Rahmen meiner Lehrveranstaltung "Aristoteles' zoologis,che Schriften, mit einem Blick auf neuere Biologie".)
Falls dieses hier
im Endprodukt landet: dann wohl als ein Einschub.
Zum Kontext
siehe Syllabus s.l. : summer 2016 | Unterrichtüber Aristoteles' Tiere: Entwürfe vor Semesterbeginn (2016-04-05) .
Meine eigenen
Basis-Überlegungen, auf derzeitigem Stand: Aristotelesse: 1. Versuch ( 0381 ) | VomTier zur Tierphilosophie (2016-04-08)
(Hypothesen zur) Entstehung des corpus aristotelicum
Nicht meine Hypothesen! (Einige der Überlegungen sind ganz oder teilweise meine. Und alle Missverständnisse und etwaigen Fehlwiedergaben sind ganz meine.)
• Literatur zum Folgenden: primär
Flashar, Friederike Berger, Kullmann, Barnes, Leroi (+Strabo & Plutarch … )
• Die
Klassische Erzählung: 1. Teil: Aristoteles arbeitet
• Aristoteles
sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann Skripten für seine Vorlesungen.
(für die Vorlesungsskript-Theorie sprechen die gelegentlich sehr dunklen
Stellen in den uns vorliegenden Texten [Aristotle as a cuttlefish], Stellen die
den Hörern u.U. aufgrund der mündlichen Erläuterungen in der Vorlesung selbst
klar waren, obwohl sie uns dunkel
sind.) Diese Vorlesungsskripten sind die
Werke die uns vorliegen. (((Dass wir
(m.W.) gelinde gesagt nicht wissen ob es im Peripatos zur Zeit des Aristoteles
etwas gegeben hat, das so sehr aussah wie eine Vorlesung, dass wir sagen würden
"das ist eine Vorlesung": ist nur ein kleiner Schönheitsfehler.)))
• Die
Klassische Erzählung: revidierte Fassung: 1. Teil: Aristoteles arbeitet
Problemlage: Die Werke die uns
vorliegen sind z.T. inkonsistent. Und wir haben Textstellen die mehrfach an unterschiedlicher
Stelle auftauchen. Und wir haben Textstellen, von denen die Editor/innen,
Übersetzer/innen, Kommentator/innen der Ansicht sind, dass sie an andrer Stelle
besser aufgehoben wären, als dort wo wir sie in den mss. finden. . Und wir haben
Textstellen, von denen die Editor/innen, Übersetzer/innen, Kommentator/innen
der Ansicht sind, dass sie nachträgliche Einschübe seien.
• Aristoteles
sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine
Vorlesungen, teils andere Texte. Und dann geht's wieder los: Aristoteles
sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine
Vorlesungen, teils andere Texte. Und dann wieder und wieder: Aristoteles
sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine Vorlesungen,
teils andere Texte. Und hat zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche
Ansichten. Aus all diesen Texten macht irgendwer irgendwann (Althypothese: Andronikos
von Rhodos, 1. Jhd. BC) Bücher. Dies sind die Werke die uns vorliegen.
• Probleme
mit der revidierten Fassung: Dass Autoren ihre Ansicht ändern ist nicht
selten. Aber in den Fällen wo wir's nachvollziehen können (spätestens von Hieronymus'
doppelter Psalmenübersetzung - 4. Jhd. - angefangen!) führt das aber nie dazu,
dass frühere Fassungen einfach cut&paste zusammen mit späteren zu einem
Text verbunden werden, ohne dass wir nicht noch Zugriff auf die einzelnen
getrennten Textzustände als Textzustände in entsprechenden Überlieferungsträgern
hätten. •• • Zudem: Die
früher/später-Wahrnehmung in bezug auf Texte die die wahrnehmenden Personen für
solche des Aristoteles halten: beginnt erst im 20. Jahrhundert. •• • Die Werke des "Aristoteles" in
Formen die alles andere als bloß bruchstückhaft waren zirkulierten spätestens
um 200 BC: deutlich vor Andronikos. D.h.: in rund 100 Jahren nach dem Tod von
Aristoteles müsste die Erinnerung an die Entstehung einer Texte, die Genese
seiner Werke spurlos (bzw. uns spurlos) verschwunden sein, obwohl sie allen
späteren Kommentatoren arg viel Arbeit etwas unmögliches zu tun: inkonsistentes
als konsistent, unsinniges als sinnvoll, unverständliches als verständlich,
obwohl solche Erinnerung allen späteren Kommentatoren arg viel Arbeit etwas
unmögliches zu tun erspart hätte, und daher hochgradig bewahrenswerte
Erinnerung gewesen wäre. • • • Zudem: Man
neigt erfahrungsgemäß durchaus dazu, wenn man zum wiederholten Mal, und mit
geänderter Ansicht, zu X vorträgt oder gar schreibt Sätze der Art "früher
war ich der Ansicht A, bin dann zu A' gewechselt, und vertrete jetzt B, weil
C" zu äußern. Derartiges findet sich im corpus aristotelicum aber
nicht.
• Die
ganz Klassische Erzählung: 2. Teil: Was mit den Schriften nach des Meisters
Tod geschah:
• Aristoteles
stirbt. Theophrast erbt seine Schriften/Bibliothek/Manuskripte/was auch immer.
Theophrast stirbt. Neleus erbt Aristoteles' und Theophrasts Nachlass. Und
bringt die Sachen von Athen weg nach Hause. Dort werden sie für längere Zeit
verbuddelt, um sie vor einem handschriftensammelnden König einer anderen Gegend
zu schützen. Sie werden ausgebuddelt und Apellikon bekommt sie - deutlich
beschädigt - in seine Hände, und erzeugt etwas was er für eine die
Beschädigungen brauchbar ausbessernde Fassung hält, die aber nicht gut ist.
Sulla erobert und plündert Hellas und weiteres, und nimmt dabei Aristoteles
Schriften/Manuskripte/was auch immer nach Rom mit. Tyrannion sieht sie, und tut
vielleicht etwas damit. Andronikos ordnet das ganze, und macht daraus eine
Aristoteles-Ausgabe, die auf wundersame Weise sehr der durch Immanuel Bekker im
19. Jahrhundert ähnelt.[1]
• Hat Charme. Und mit dem
Verbuddeln verbundene Beschädigungen scheinen auch das mehrfache Verwenden von
Fragmenten an verschiedenen Stellen erklären zu können. Und die Dunkelheit
einiger Stellen erst recht.
• Aber warum sind die Papyrus-Rollen
genau bei sinnvollen Textgrenzen auseinander gebröselt? Und wie ist zu
erklären, dass Werke des Aristoteles deutlich vor Andronikos in Umlauf waren?
• Den letzten und weitere
Gründe diese Erzählung in Frage zu Stellen finden Sie bei Barnes ("Roman
Aristotle" 1997). Darunter auch den, dass wir auch nach Andronikos
durchaus keine Stabilität haben,
weder was zum corp.Arist. gehört,
noch was genau Inhalt welcher Pragmatie sei, und wie es dort anzuordnen sei.[2]
• Die
Klassische Erzählung: 2. Teil: Was mit den Schriften nach des Meisters tot
geschah: Antike Alternativ-Erzählung
• Aristoteles
stirbt. Theophrast erbt seine Schriften/Bibliothek/Manuskripte/was auch immer.
Theophrast stirbt. Neleus erbt Aristoteles' und Theophrasts Nachlass. Und
bringt die Sachen von Athen weg nach Hause. Die Bücher werden von Ptolemaios
Philadelphos (fl. ca. 283-247) nach Alexandria gebracht, und landen dort in der
Bibliothek (Barnes 1997, pp. 5-7).
• Würde die nicht
unerhebliche Verbreitung von Schriften aus dem was für uns corp.Arist. ist
erklären. Ist dafür aber nicht nötig, wenn man annimmt es habe (auch) Athener
Kopien solcher Schriften gegeben (cf. Barnes,
op. cit., pp. 14sqq). Es erklärt aber zumindest sehr hübsch, warum die
Bibliothek von Alexandria große Bestände an Aristotelica hatte (Barnes, p. 15).
Andererseits ist diese Version im Widerspruch zu - nach Barnes m.E. plausibler
Ansicht - arg vielen andren antiken und arabischen Quellen (Barnes, pp. 9-11).
Wir haben also als mögliche Quellen der Verbreitung von Texten dessen was
heute für uns corp.arist. ist:
• Bestände des Peripatos
(angenommen)
• Bestände der Bibliothek
von Alexandria (belegt)
• u.U. Edition durch
Eudemus (Barnes 61-63)
• Rekonstitution/Edition
durch Apellikon
• Edition durch Tyrannion
• Redistribution durch
Andronikos, u.U. mit Begleitmaterial
Was wir wissen ist, dass es bereits in der Antike verschiedene
Textversionen von "Aristoteles"-Texten gab.
Was die Altphilologen - soweit ich sehe alle von ihnen - annehmen, ist,
dass das was wir an Textständen haben, in jedem Fall auf eine einzige
Ursprungsfassung zurückzuführen ist.
Auch bei den De animalibus libri.
Auch in Kenntnis der präandronikanischen Zirkulationen (Barnes 1997, p. 69
& 49s , Berger 2004 & Berger 2005, auch Kullmann). Wobei bei HA davon
ausgegangen wird, dass der Archetyp für Bücher VIII und IX (nach der prä-Gaza
Zählung Balme's) ein anderer gewesen sein muss, als der der früheren Bücher
(Berger, 2005, p. 193).
Literatur zum
bisherigen:
Wolfgang Kullmann: Aristoteles als
Naturwissenschaftler, Boston/Berlin/München : De Gruyter 2014
Friederike Berger: Die Textgeschichte
der Historia Animalium des
Aristoteles, Aristophanes von Byzanz und die zoologische Sylloge des
Konstantinos Porphyrogennetos, in: "Rursus" 7 (2012), URL:
https://rursus.revues.org/766
[gesehen 2016-04-11]
2004
[gesehen 2016-04-11]
2004
Hellmut Flashar (ed.): Die
Philosophie der Antike 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos; Basel :
Schwabe 1983
Charles B. Schmitt: Aristotle as a Cuttlefish : The Origin and
Development of a Renaissance Image, in: "Studies in the
Renaissance" 12 (1965), pp. 60-72
Julian Barnes: Roman Aristotle, in: Jonathan Barnes & Miriam Griffin (edd.): "Philosophia
Togata II : Plato and Aristotle at Rome", Oxford : Clarendon Press 1997,
pp. 1-69
Friederike Berger: Die Textgeschichte
der Historia Animalium des Aristoteles, Wiebaden : Dr. Ludwig Reichert
Verlag 2005
Armand Marie Leroi: The Lagoon : How Aristotle Invented Science,
London : Bloomsbury 2015
Hellmut Flashar (ed.): Die
Philosophie Der Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles Peripatos ; 2.
Durchgesehene Und Erweiterte Auflage, Basel : Schwabe Verlag 2004
Hellmut Flashar: Zweites Kapitel :
Aristoteles, in: Hellmut Flashar
(ed.): "Die Philosophie Der Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles
Peripatos ; 2. Durchgesehene Und Erweiterte Auflage", Basel : Schwabe
Verlag 2004
Andrea Falcon: Supplement to
Commentators on Aristotle : Andronicus of Rhodes, in: Edward N. Zalta (ed.): "The Stanford
Encyclopedia of Philosophy" (Fall 2013 Edition), URL: http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-commentators/supplement.html
[gesehen: 2016-04-18]
[gesehen: 2016-04-18]
Zur Textgeschichte von HA
• Hauptbesonderheit ist,
dass sich hier eine rinascimentale Neuordnung der Bücher durchgesetzt hat.[3] Durch
Theodorus Gaza, der - unbestritten plausibel, aber nach Balme und Gotthelf
nicht notwendig richtig/zwingend/einzig plausibel - aufgrund der Querverweise
innerhalb von HA das Buch VII der Handschriftlichen Überlieferung nach Buch IX
der Handschriftlichen Überlieferung umgestellt hat, und sich damit bis Balme
durchgesetzt hat, wobei Kullmann (2014, pp. 291-294) an Gaza's Anordnung (gegen
die Handschriften und Balme) festhält (wenn ich's richtig lese mit der
Begründung dass Gaza kein Idiot war, sondern mit bedacht und aus guten Gründen
gehandelt hat - was m.W. weder von irgendwem bestritten wird). Die Frage ist,
ob Gaza's Neuordnung derart zwingend ist, dass man ihr gegen das was für
mindestens gut 600 Jahre Stand der Handschriften war folgen sollte. Ich werde
gleich darauf zurückkommen.
Hier aber zunächst, als Hintergrund: der Überblick über die
Textüberlieferungsgeschichte von HA, soweit wir sie zu kennen glauben: Bericht
über die Handschriften und Drucke gibt Balme 2002, pp. 1-48 (Für Analysen und
Korrekturen dazu: Siehe Berger 2005). Balme liefert kein Stemma. Ein solches, übersichtlich und mit Zeitangaben gibt
Friederike Berger 2005, p. 201:
(Die Markierungen sind meine.)
Beachtlich : Zeiten (i.a.: dokumentierter Start der editionsbrauchbaren
Überlieferung erst im 8. oder 9. Jahrhundert,[4]
Konjunkturen, Spätheit der mehrquellennutzenden Textkonstituierung (abgesehen
von Guilelmus und möglicherweise ω**).
Und damit wieder zurück zur Frage: Die Frage ist, ob Gaza's Neuordnung
derart zwingend ist, dass man ihr gegen das was für mindestens gut 600 Jahre
Stand der Handschriften war folgen sollte. Oder genauer: ob Gaza's Neuordnung
derart zwingend ist, dass wir ihr
gegen das was für mindestens gut 600 Jahre Stand der Handschriften war folgen
sollten.
Ausgehend davon, dass
meine eignen Schwerpunkte im 16. Jhd. Und in der ersten Hälfte des 17. Jhd.s
liegen, in Zeiten in denen Gazas Ordnung galt: stünde zu vermute ich bevorzugte
diese. Doch das ist nicht der Fall. Denn - von einer Ausnahme (Niphus
Kommentar') abgesehen - spielt für diese "meine" Texte diese Ordnung
keinerlei Rolle. Die Gründe für dieses Keinerollespielen - das m.E. durchaus
bemerkenswert ist, und auch Licht auf das werfen kann, was die HA des corpus aristotelicum sind und nicht sind - diese Gründe für dieses
Keinerollespielen sollten wir im Laufe der Lehrveranstaltung, bei der
Behandlung der einzelnen einschlägigen Begleit-Texte (von Plinius bis Linné)
diskutieren.
Meine Neigung geht dazu,
der traditionellen Ordnung (i.e. Balme's Ordnung) zu folgen. Aber die
Entscheidung liegt bei Ihnen.
Damit zur Abstimmung:
Abstimmung:
Traditionell/Balme:
Abstimmung
ergab: Das Seminar/der Lektürekurs verwendet diese Reihenfolge.
Gaza:
Keine Stimme
für diese Option.
[1] Dass die Geschichte auch nach Bekker
noch weitergegangen ist (und vermutlich auch in Zukunft noch weitergeht): sei
angemerkt, und ist als Thema "03- Rezeptionen : 03 : Die Entstehung
(besser wäre wohl: 'Wandlungen'!) des corpus
aristotelicum von den ersten Drucken mit mehr als einem Werk des corpus aristotelicum bis zur 'revised
Oxford Translation' ist auch potentieller Gegenstand des Lektürekurses/Seminars. "Reviised Oxford
Translation" : i.e. Barnes 1991: Jonathan Barnes (ed.): The Complete
Works of Aristotle : The Revised Oxford Translation, Princeton : Princeton
University Press 1991, 2 Bd.e.
[2] Flashar 2004b (Hellmut Flashar: Zweites Kapitel : Aristoteles, in: Hellmut Flashar (ed.): "Die Philosophie
Ber Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles Peripatos ; 2, Durchgesehene
Und Erweiterte Auflage", Basel : Schwabe Verlag 2004) referiert p. 181a
Barnes 1997' Schlussfolgerung Andronikos von Rhodos habe recht arg wenig zur
Entstehung, Edition, Ordnung der werke des Aristoteles beigetragen, um dann mit
einem "Doch muss festgehalten werden Andronikos war ein aneerkannter
Gelehrter," eingeleitet die klassische Erzählung fortzusetzen (so auch p.
181b: Andronikos habe Metaphysik und
Physik zusammengestellt [ohne
Erwähnung der Gegenargumente Barnes!]).
[3] Zweifel an der überlieferten Ordnung/Reihenfolge einzelner
Bücher von Pragmatien des corpus
aristotelicum gab's und gibt's immer
wieder (vgl. die Lage bei der Politikschrift
des Aristoteles), aber dass eine Umordnung jahrhundertelange Akzeptanz gefunden
hat: ist m.W. ein Ausnahmefall.
[4] Was, soweit ich sehe, für antike Texte
durchaus kein extremer Sonderfall ist (gelinde gesagt), aber dennoch
bemerkenswert, und in einer Lehrveranstaltung für "Undergraduates"
m.E. auch erwähnenswert.