2016-04-26

Aristotelesse: 2. Versuch, und Einschub ( 0382 )

Mutmaßungen, Texte, Überlieferungen

(Im wesentlichen eine Dokumentation eines Teils meines Vortrags &c. am Dienstag dem 19. April 2016 im Rahmen meiner Lehrveranstaltung "Aristoteles' zoologis,che Schriften, mit einem Blick auf neuere Biologie".)



Falls dieses hier im Endprodukt landet: dann wohl als ein Einschub.


Meine eigenen Basis-Überlegungen, auf derzeitigem Stand: Aristotelesse: 1. Versuch ( 0381 )   |   VomTier zur Tierphilosophie (2016-04-08) 



(Hypothesen zur) Entstehung des corpus aristotelicum




Nicht meine Hypothesen! (Einige der Überlegungen sind ganz oder teilweise meine. Und alle Missverständnisse und etwaigen Fehlwiedergaben sind ganz meine.)

• Literatur zum Folgenden: primär Flashar, Friederike Berger, Kullmann, Barnes, Leroi (+Strabo & Plutarch … )


         Die Klassische Erzählung: 1. Teil: Aristoteles arbeitet
         Aristoteles sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann Skripten für seine Vorlesungen. (für die Vorlesungsskript-Theorie sprechen die gelegentlich sehr dunklen Stellen in den uns vorliegenden Texten [Aristotle as a cuttlefish], Stellen die den Hörern u.U. aufgrund der mündlichen Erläuterungen in der Vorlesung selbst klar waren, obwohl sie uns dunkel sind.) Diese Vorlesungsskripten  sind die Werke die uns vorliegen.   (((Dass wir (m.W.) gelinde gesagt nicht wissen ob es im Peripatos zur Zeit des Aristoteles etwas gegeben hat, das so sehr aussah wie eine Vorlesung, dass wir sagen würden "das ist eine Vorlesung": ist nur ein kleiner Schönheitsfehler.)))


         Die Klassische Erzählung: revidierte Fassung: 1. Teil: Aristoteles arbeitet
Problemlage: Die Werke die uns vorliegen sind z.T. inkonsistent. Und wir haben Textstellen die mehrfach an unterschiedlicher Stelle auftauchen. Und wir haben Textstellen, von denen die Editor/innen, Übersetzer/innen, Kommentator/innen der Ansicht sind, dass sie an andrer Stelle besser aufgehoben wären, als dort wo wir sie in den mss. finden. . Und wir haben Textstellen, von denen die Editor/innen, Übersetzer/innen, Kommentator/innen der Ansicht sind, dass sie nachträgliche Einschübe seien.

         Aristoteles sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine Vorlesungen, teils andere Texte. Und dann geht's wieder los: Aristoteles sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine Vorlesungen, teils andere Texte. Und dann wieder und wieder: Aristoteles sammelt Material, denkt nach, und schreibt dann teils Skripten für seine Vorlesungen, teils andere Texte. Und hat zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Ansichten. Aus all diesen Texten macht irgendwer irgendwann (Althypothese: Andronikos von Rhodos, 1. Jhd. BC) Bücher. Dies sind die Werke die uns vorliegen.

         Probleme mit der revidierten Fassung: Dass Autoren ihre Ansicht ändern ist nicht selten. Aber in den Fällen wo wir's nachvollziehen können (spätestens von Hieronymus' doppelter Psalmenübersetzung - 4. Jhd. - angefangen!) führt das aber nie dazu, dass frühere Fassungen einfach cut&paste zusammen mit späteren zu einem Text verbunden werden, ohne dass wir nicht noch Zugriff auf die einzelnen getrennten Textzustände als Textzustände in entsprechenden Überlieferungsträgern hätten. •• •   Zudem: Die früher/später-Wahrnehmung in bezug auf Texte die die wahrnehmenden Personen für solche des Aristoteles halten: beginnt erst im 20. Jahrhundert. •• •   Die Werke des "Aristoteles" in Formen die alles andere als bloß bruchstückhaft waren zirkulierten spätestens um 200 BC: deutlich vor Andronikos. D.h.: in rund 100 Jahren nach dem Tod von Aristoteles müsste die Erinnerung an die Entstehung einer Texte, die Genese seiner Werke spurlos (bzw. uns spurlos) verschwunden sein, obwohl sie allen späteren Kommentatoren arg viel Arbeit etwas unmögliches zu tun: inkonsistentes als konsistent, unsinniges als sinnvoll, unverständliches als verständlich, obwohl solche Erinnerung allen späteren Kommentatoren arg viel Arbeit etwas unmögliches zu tun erspart hätte, und daher hochgradig bewahrenswerte Erinnerung gewesen wäre. • • •  Zudem: Man neigt erfahrungsgemäß durchaus dazu, wenn man zum wiederholten Mal, und mit geänderter Ansicht, zu X vorträgt oder gar schreibt Sätze der Art "früher war ich der Ansicht A, bin dann zu A' gewechselt, und vertrete jetzt B, weil C" zu äußern. Derartiges findet sich im corpus aristotelicum  aber nicht.

         Die ganz Klassische Erzählung: 2. Teil: Was mit den Schriften nach des Meisters Tod geschah:
         Aristoteles stirbt. Theophrast erbt seine Schriften/Bibliothek/Manuskripte/was auch immer. Theophrast stirbt. Neleus erbt Aristoteles' und Theophrasts Nachlass. Und bringt die Sachen von Athen weg nach Hause. Dort werden sie für längere Zeit verbuddelt, um sie vor einem handschriftensammelnden König einer anderen Gegend zu schützen. Sie werden ausgebuddelt und Apellikon bekommt sie - deutlich beschädigt - in seine Hände, und erzeugt etwas was er für eine die Beschädigungen brauchbar ausbessernde Fassung hält, die aber nicht gut ist. Sulla erobert und plündert Hellas und weiteres, und nimmt dabei Aristoteles Schriften/Manuskripte/was auch immer nach Rom mit. Tyrannion sieht sie, und tut vielleicht etwas damit. Andronikos ordnet das ganze, und macht daraus eine Aristoteles-Ausgabe, die auf wundersame Weise sehr der durch Immanuel Bekker im 19. Jahrhundert ähnelt.[1]

         Hat Charme. Und mit dem Verbuddeln verbundene Beschädigungen scheinen auch das mehrfache Verwenden von Fragmenten an verschiedenen Stellen erklären zu können. Und die Dunkelheit einiger Stellen erst recht.
         Aber warum sind die Papyrus-Rollen genau bei sinnvollen Textgrenzen auseinander gebröselt? Und wie ist zu erklären, dass Werke des Aristoteles deutlich vor Andronikos in Umlauf waren?
         Den letzten und weitere Gründe diese Erzählung in Frage zu Stellen finden Sie bei Barnes ("Roman Aristotle" 1997). Darunter auch den, dass wir auch nach Andronikos durchaus keine Stabilität haben, weder was zum corp.Arist. gehört, noch was genau Inhalt welcher Pragmatie sei, und wie es dort anzuordnen sei.[2]


         Die Klassische Erzählung: 2. Teil: Was mit den Schriften nach des Meisters tot geschah: Antike Alternativ-Erzählung
         Aristoteles stirbt. Theophrast erbt seine Schriften/Bibliothek/Manuskripte/was auch immer. Theophrast stirbt. Neleus erbt Aristoteles' und Theophrasts Nachlass. Und bringt die Sachen von Athen weg nach Hause. Die Bücher werden von Ptolemaios Philadelphos (fl. ca. 283-247) nach Alexandria gebracht, und landen dort in der Bibliothek (Barnes 1997, pp. 5-7).
         Würde die nicht unerhebliche Verbreitung von Schriften aus dem was für uns corp.Arist. ist erklären. Ist dafür aber nicht nötig, wenn man annimmt es habe (auch) Athener Kopien solcher Schriften  gegeben (cf. Barnes, op. cit., pp. 14sqq). Es erklärt aber zumindest sehr hübsch, warum die Bibliothek von Alexandria große Bestände an Aristotelica hatte (Barnes, p. 15). Andererseits ist diese Version im Widerspruch zu - nach Barnes m.E. plausibler Ansicht - arg vielen andren antiken und arabischen Quellen (Barnes, pp. 9-11).

Wir haben also als mögliche Quellen der Verbreitung von Texten dessen was heute für uns corp.arist. ist:
         Bestände des Peripatos (angenommen)
         Bestände der Bibliothek von Alexandria (belegt)
         u.U. Edition durch Eudemus (Barnes 61-63)
         Rekonstitution/Edition durch Apellikon
         Edition durch Tyrannion
         Redistribution durch Andronikos, u.U. mit Begleitmaterial


Was wir wissen ist, dass es bereits in der Antike verschiedene Textversionen von "Aristoteles"-Texten gab.

Was die Altphilologen - soweit ich sehe alle von ihnen - annehmen, ist, dass das was wir an Textständen haben, in jedem Fall auf eine einzige Ursprungsfassung zurückzuführen ist.

Auch bei den De animalibus libri. Auch in Kenntnis der präandronikanischen Zirkulationen (Barnes 1997, p. 69 & 49s , Berger 2004 & Berger 2005, auch Kullmann). Wobei bei HA davon ausgegangen wird, dass der Archetyp für Bücher VIII und IX (nach der prä-Gaza Zählung Balme's) ein anderer gewesen sein muss, als der der früheren Bücher (Berger, 2005, p. 193).



Literatur zum bisherigen:
Wolfgang Kullmann: Aristoteles als Naturwissenschaftler, Boston/Berlin/München : De Gruyter 2014
Friederike Berger: Die Textgeschichte der Historia Animalium des Aristoteles, Aristophanes von Byzanz und die zoologische Sylloge des Konstantinos Porphyrogennetos, in: "Rursus" 7 (2012), URL: https://rursus.revues.org/766
[gesehen 2016-04-11]
2004
Hellmut Flashar (ed.): Die Philosophie der Antike 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos; Basel : Schwabe 1983
Charles B. Schmitt: Aristotle as a Cuttlefish : The Origin and Development of a Renaissance Image, in: "Studies in the Renaissance" 12 (1965), pp. 60-72
Julian Barnes: Roman Aristotle, in: Jonathan Barnes & Miriam Griffin (edd.): "Philosophia Togata II : Plato and Aristotle at Rome", Oxford : Clarendon Press 1997, pp. 1-69
Friederike Berger: Die Textgeschichte der Historia Animalium des Aristoteles, Wiebaden : Dr. Ludwig Reichert Verlag 2005
Armand Marie Leroi: The Lagoon : How Aristotle Invented Science, London : Bloomsbury 2015
Hellmut Flashar (ed.): Die Philosophie Der Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles Peripatos ; 2. Durchgesehene Und Erweiterte Auflage, Basel : Schwabe Verlag 2004
Hellmut Flashar: Zweites Kapitel : Aristoteles, in: Hellmut Flashar (ed.): "Die Philosophie Der Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles Peripatos ; 2. Durchgesehene Und Erweiterte Auflage", Basel : Schwabe Verlag 2004
Andrea Falcon: Supplement to Commentators on Aristotle : Andronicus of Rhodes, in: Edward N. Zalta (ed.): "The Stanford Encyclopedia of Philosophy" (Fall 2013 Edition), URL: http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-commentators/supplement.html
[gesehen: 2016-04-18]












Zur Textgeschichte von HA
         Hauptbesonderheit ist, dass sich hier eine rinascimentale Neuordnung der Bücher durchgesetzt hat.[3] Durch Theodorus Gaza, der - unbestritten plausibel, aber nach Balme und Gotthelf nicht notwendig richtig/zwingend/einzig plausibel - aufgrund der Querverweise innerhalb von HA das Buch VII der Handschriftlichen Überlieferung nach Buch IX der Handschriftlichen Überlieferung umgestellt hat, und sich damit bis Balme durchgesetzt hat, wobei Kullmann (2014, pp. 291-294) an Gaza's Anordnung (gegen die Handschriften und Balme) festhält (wenn ich's richtig lese mit der Begründung dass Gaza kein Idiot war, sondern mit bedacht und aus guten Gründen gehandelt hat - was m.W. weder von irgendwem bestritten wird). Die Frage ist, ob Gaza's Neuordnung derart zwingend ist, dass man ihr gegen das was für mindestens gut 600 Jahre Stand der Handschriften war folgen sollte. Ich werde gleich darauf zurückkommen.


Hier aber zunächst, als Hintergrund: der Überblick über die Textüberlieferungsgeschichte von HA, soweit wir sie zu kennen glauben: Bericht über die Handschriften und Drucke gibt Balme 2002, pp. 1-48 (Für Analysen und Korrekturen dazu: Siehe Berger 2005). Balme liefert kein Stemma. Ein solches, übersichtlich und mit Zeitangaben gibt Friederike Berger 2005, p. 201:

 (Die Markierungen sind meine.)
Beachtlich : Zeiten (i.a.: dokumentierter Start der editionsbrauchbaren Überlieferung erst im 8. oder 9. Jahrhundert,[4] Konjunkturen, Spätheit der mehrquellennutzenden Textkonstituierung (abgesehen von Guilelmus und möglicherweise ω**).
Und damit wieder zurück zur Frage: Die Frage ist, ob Gaza's Neuordnung derart zwingend ist, dass man ihr gegen das was für mindestens gut 600 Jahre Stand der Handschriften war folgen sollte. Oder genauer: ob Gaza's Neuordnung derart zwingend ist, dass wir ihr gegen das was für mindestens gut 600 Jahre Stand der Handschriften war folgen sollten.
            Ausgehend davon, dass meine eignen Schwerpunkte im 16. Jhd. Und in der ersten Hälfte des 17. Jhd.s liegen, in Zeiten in denen Gazas Ordnung galt: stünde zu vermute ich bevorzugte diese. Doch das ist nicht der Fall. Denn - von einer Ausnahme (Niphus Kommentar') abgesehen - spielt für diese "meine" Texte diese Ordnung keinerlei Rolle. Die Gründe für dieses Keinerollespielen - das m.E. durchaus bemerkenswert ist, und auch Licht auf das werfen kann, was die HA des corpus aristotelicum  sind und nicht sind - diese Gründe für dieses Keinerollespielen sollten wir im Laufe der Lehrveranstaltung, bei der Behandlung der einzelnen einschlägigen Begleit-Texte (von Plinius bis Linné) diskutieren.
            Meine Neigung geht dazu, der traditionellen Ordnung (i.e. Balme's Ordnung) zu folgen. Aber die Entscheidung liegt bei Ihnen.


Damit zur Abstimmung:



Abstimmung:

Traditionell/Balme:
Abstimmung ergab: Das Seminar/der Lektürekurs verwendet diese Reihenfolge.


Gaza:
Keine Stimme für diese Option.





[1]           Dass die Geschichte auch nach Bekker noch weitergegangen ist (und vermutlich auch in Zukunft noch weitergeht): sei angemerkt, und ist als Thema "03- Rezeptionen : 03 : Die Entstehung (besser wäre wohl: 'Wandlungen'!) des corpus aristotelicum von den ersten Drucken mit mehr als einem Werk des corpus aristotelicum bis zur 'revised Oxford Translation' ist auch potentieller Gegenstand des Lektürekurses/Seminars. "Reviised Oxford Translation" : i.e. Barnes 1991: Jonathan Barnes (ed.): The Complete Works of Aristotle : The Revised Oxford Translation, Princeton : Princeton University Press 1991, 2 Bd.e.

[2]           Flashar 2004b (Hellmut Flashar: Zweites Kapitel : Aristoteles, in: Hellmut Flashar (ed.): "Die Philosophie Ber Antike Band 3 : Ältere Akademie Aristoteles Peripatos ; 2, Durchgesehene Und Erweiterte Auflage", Basel : Schwabe Verlag 2004) referiert p. 181a Barnes 1997' Schlussfolgerung Andronikos von Rhodos habe recht arg wenig zur Entstehung, Edition, Ordnung der werke des Aristoteles beigetragen, um dann mit einem "Doch muss festgehalten werden Andronikos war ein aneerkannter Gelehrter," eingeleitet die klassische Erzählung fortzusetzen (so auch p. 181b: Andronikos habe Metaphysik und Physik zusammengestellt [ohne Erwähnung der Gegenargumente Barnes!]).

[3]           Zweifel an der überlieferten Ordnung/Reihenfolge einzelner Bücher von Pragmatien des corpus aristotelicum  gab's und gibt's immer wieder (vgl. die Lage bei der Politikschrift des Aristoteles), aber dass eine Umordnung jahrhundertelange Akzeptanz gefunden hat: ist m.W. ein Ausnahmefall.

[4]           Was, soweit ich sehe, für antike Texte durchaus kein extremer Sonderfall ist (gelinde gesagt), aber dennoch bemerkenswert, und in einer Lehrveranstaltung für "Undergraduates" m.E. auch erwähnenswert.